Wer Rückgrat zeigt, hat einen Wirbel nach dem anderen
Kommentar zum Sonntag
Ausgabe: 1998/36, Evangelienkommentar
01.09.1998 - P. Arno Jungreithmaier OSB
Es hat den Anschein, als halte Jesus nicht viel von Familie. „Frau, was habe ich mit dir zu tun?“, fragt er seine Mutter. „Wer sind meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ „Wer seine Eltern mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert!“ Der junge Mann soll den Vater nicht mehr begraben, sondern Jesus sofort folgen. Jesus hat keinen Beruf, mit dem er seine Mutter versorgen könnte. Er heiratet nicht und hat keine Kinder. Sind die, die am nächsten stehen – Eltern, Geschwister, Kinder – nicht die Nächsten, denen zu allererst die Nächstenliebe gelten muß? Jesu Aufforderung an den reichen Jüngling „ehre Vater und Mutter!“ belegt dies eindeutig. Er muß aber Situationen vor Augen gehabt haben, wo Familienangehörige der gesunden Entwicklung eines Menschen im Weg standen oder das Wachstum des Reiches Gottes behinderten. In Frage stellen . . . Die Worte „Wenn jemand . . . nicht Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern gering achtet, kann er nicht mein Jünger sein!“ verstehe ich so: Du, der du dich für den Weg des Evangeliums entschieden hast, der du das volle Leben suchst für deine Mitmenschen und dich, trenne dich von der Auffassung deines Vaters, der die Menschen einteilt in anständige Leute und Gesindel . . . denn Gott läßt die Sonne aufgehen über Gerechten und Ungerechten! Du, löse dich von deiner Mutter, die dich als Besitz betrachtet und die es lernen muß loszulassen, weil sie sonst deine Selbstwerdung behindert. Distanziere dich vom Gottesbild deiner Eltern, das Angst macht und den befreienden, liebenden Gott verdunkelt. Wenn deine Familie mit jemandem streitet, löse dich, denn du sollst deine Feinde lieben! Widersteh deinem Partner, der für Rache oder Gewalt ist bzw. selber in der Familie Gewalt anwendet, denn als Christ bist du der Gewaltlosigkeit verpflichtet! Auch wenn deine Kinder es vielleicht nicht (gleich) verstehen, versuche gegen den Strom der schrankenlosen Konsumgesellschaft zu schwimmen . . . Jesus fordert auf, mit Überzeugung den Weg des Evangeliums zu gehen und Rückgrat zu zeigen. Ich habe kürzlich diesen treffenden Satz gelesen: „Wer Rückgrat hat, wird einen Wirbel nach dem anderen haben“ – vielleicht eine gute Übersetzung für „wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir her geht, kann nicht mein Jünger sein!“.Loslassen lernenSchließlich hören wir heute die oft wiederkehrende Forderung nach Verzicht auf Besitz. Es ist ein echt schwieriges und nicht angenehmes Wort aus Jesu Mund. Auch hier gilt wohl: wer es fassen kann, der fasse es. Entweder als kluge Einladung, keinen Reichtum anzustreben, denn, so Franz von Assisi, „wenn wir Besitz haben, brauchen wir Waffen, um ihn zu verteidigen“. Oder als dringliche Notwendigkeit zu teilen um der Gerechtigkeit willen. Oder als Aufforderung, an nichts zu hängen und langsam das Loslassen zu trainieren. Kyrilla Spicker sagte einmal: „Greifen und Festhalten kann ich seit meiner Geburt. Teilen und Geben muß ich lernen. Jetzt übe ich das Lassen!“