Die Schularbeit ist danebengegangen. Aus Angst vor der Auseinandersetzung wird die Unterschrift gefälscht. Kommt der Schwindel ans Tageslicht, ist es für Eltern oft nicht einfach, wie sie sich in dieser Situation richtig verhalten sollen. Manchmal sind Notlügen erlaubt. Aus der Serie "Ethik im Alltag" mit Michael Rosenberger.
Ausgabe: 2017/25
20.06.2017 - Michael Rosenberger
Fallbeispiel: Als Vater erhalte ich einen Anruf des Klassenvorstandes meiner 15-jährigen Tochter. Er fragt nach, ob es meine Unterschrift ist, die unter der Matheschularbeit steht. Ich habe die Schularbeit nie gesehen. Soll ich die Unterschriftenfälschung der Tochter einräumen? Ich frage mich, ob ich meine Tochter gegenüber dem Klassenvorstand bloßstellen muss.
Antwort
In seinem Lied „Zeugnistag“ erzählt der Liedermacher Reinhard Mey von einer ganz ähnlichen Situation. Da erhält er als 12-Jähriger ein Zeugnis mit lauter Fünfern. Anstatt es den Eltern zu zeigen, unterschreibt er selbst. Der Schwindel fliegt auf, und der Lehrer zitiert den Burschen mit seinen Eltern in die Schule, wo er eine Lawine von Vorwürfen über dem Kind ausschüttet. Die Eltern jedoch beteuern, sie hätten selbst unterschrieben, nehmen ihr Kind an der Hand und gehen nach Hause. Mey lässt offen, ob das Verhalten der Eltern in moralischer Sicht richtig war. Aber die Erfahrung, dass seine Eltern bedingungslos zu ihm stehen, trägt ihn durch sein Leben.
Unerschütterliche Liebe
Ich halte Meys Lied für trefflich und sehr differenziert. Im Vordergrund des elterlichen Verhaltens steht nicht die moralische Frage der Ehrlichkeit, sondern die pädagogische Frage, was sie ihrem Kind vermitteln wollen. Das Kind muss aber zunächst erfahren, dass es bei den Eltern geborgen ist. Würden die Eltern in die Schimpftirade des Lehrers einstimmen, würde sich das Kind bestätigt fühlen, dass es richtig ist, Fehler zu verheimlichen. So jedoch weiß es, dass es sich nie mehr vor den Eltern verstecken muss, weil ihre Liebe zu ihm unerschütterlich ist.
Erlaubte Notlüge
Wenn der Vater also den begründeten Eindruck hat, dass der Klassenvorstand die Tochter bloßstellen und be-schämen will, sollte er lügen und das Problem mit der Tochter alleine ausmachen. Es wäre eine erlaubte Notlüge. Wenn er aber vermutet, dass es sich um einen anständigen Lehrer handelt, sollte er die Unterschriftenfälschung der Tochter zugeben. Denn dann lernt die Tochter, dass nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer/innen Menschen sind.